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Milz & Co: verkannte Organ-„Nichtsnutze“
von Hans Jörg Müllenmeister18.09.11 08:00:00
Einige Körperteile hat die Medizingeschichte im Laufe der Zeit als nutzlos degradiert, nur weil sie ihre Funktion schlichtweg nicht ganz verstand. Organ-Nichtsnutze wie Wurmfortsatz, Gaumenmandeln, Gallenblase und Milz – ja selbst redundante Blutgefäße in Ellbogen, Knien und Schultern sind indes keineswegs alles unnötige Organe. Und doch leisten diese unbeachteten Organe in unserem Körper einiges, denn sie sind Bakterienreservoir, Serumspeicher und wichtige Zentren der Immunabwehr.
Appendix: Herberge der nützlichen Darmflora
Beäugen wir zunächst das bekannteste „Wegwerf“-Organ: nicht den, sondern die Appendix, wie man den Wurmfortsatz nennt. Tatsächlich ist das Organ ein Vorratsspeicher für nützliche Bakterien; sie helfen bei der Verdauung. Das etwa zehn Zentimeter lange Rudiment, also ein Überbleibsel der Evolution, ist keine nutzlose „Knalltüte“, denn die Appendix ist das Rückzugsbecken für Bakterien der Darmflora. Nebenbei: die Darmflora enthält keine Pflanzen (flora), sondern Mikroorganismen. Richtiger wäre es, von der Gemeinschaft der Darmmikroorganismen zu sprechen.
Bei einer Diarrhö, schlicht bei einem Durchfall, können auch Bakterien-Nützlinge der Darmflora das Tageslicht unerlaubt hinterrücks erblicken. Gibt es aber noch die Appendix, dann verpuffen die Nützlinge nicht, vielmehr verschanzen sie sich in den Nischen der Appendix – gemeinsam eingebettet in einer Schleimschicht mit den Molekülen des Immunsystems. Die Zellen des umgebenden lymphatischen Gewebes versorgen diese in ihre Trutzburg zurück gezogenen „Krieger“ solange mit Nährstoffen. Der Trick: nach überstandener Durchfallerkrankung, besiedeln die überlebenden Mikroben erneut rasch den Dickdarm und verdrängen schädliche Keime.
Noch etwas, was nicht jeder zum Thema „Appendix“ weiß: bei guten Anatomiekenntnissen gibt es kein Problem, wenn aber Männer ein warzenförmiges ungestieltes Anhängsel am Hodenanhang ertasten, erschrecken sie. Entwarnung, es ist kein Krebsknoten – es ist die sogenannte Appendix testis am Nebenhoden: ein funktionsloses Relikt, eine embryonale Genitalanlage; die Anatomen nennen das Gebilde „Müller-Gang“. Behalten Sie diese „Erinnerung“ an die Embryonalzeit weiterhin gut eingesackelt.
Na ja, ohne Gallenblase geht’s auch
Die Skalpell-bewährten Elitegrünen unter den Weißkitteln erinnern farblich nicht nur ans „ins Gras beißen“; die „Abdomenschnipsler“ präsentieren gern als OP-Trophäe die komplette Gallenblase. In der Tat ist sie kein lebenswichtiges Organ, doch sie übernimmt als Reservoir eine durchaus wichtige Rolle bei der Fettverdauung. Das birnenförmige Hohlorgan sammelt und konzentriert den aus der Leber stammenden Gallensaft. Diesen gibt sie nach den Mahlzeiten an den Dünndarm ab, damit das Nahrungsfett gut verdaut werden kann. Nach dem Entfernen des Speicherorgans können wir gut weiter leben, wenn wir uns entsprechend fettarm und schonend ernähren. Ohne Gallenblase gibt die Leber eben kontinuierlich Gallensaft an den Dünndarm ab.
Gaumenmandeln adé
In früheren Zeiten war es Usus, bereits Kleinkindern die Gaumenmandeln zu entfernen, noch bevor sich ihr Immunsystem überhaupt entwickeln konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt entlasten die Gaumenmandeln aber das Immunsystem; sie wirken wie unerbittliche Bakterienwächter. Schließlich ist die Mundhöhle die Eingangspforte für viele ungebetene Gäste aus dem Reich der Mikroben und Viren. In späteren Lebensjahren, nachdem das Immunsystem ausgebildet ist, kann man auf die Gaumenmandeln durchaus verzichten.
Weisheit lass nach
Ein Wort zu den Weisheitszähnen, ein Relikt der Evolution, auf das wir verzichten können. Der Evolutionsmotor war im Zurückbilden des Kiefers schneller – dieser hat sich nach unserem affenartigen Durchgangsstadium schneller verkleinert als die nachmaulenden Wachstumsimpulse der Kauwerkzeuge unserer Weisheit. Vielfach führt das im späteren Lebensalter aus Platzmangel im Kiefer zu Komplikationen. Also wusch und weg mit den hinteren Kaulingen. Damit ist aber Schluss mit dem flotten „Ausverkauf“ unserer Körperteile. Ein verkannter „Ladenhüter“ bleibt uns noch: die Milz.
Die Milz ist ein virtuoses Organ
Wir alle können froh sein, wenn wir einen Spleen haben. Das ist kein absurder Wunsch, vielmehr heißt so unsere Milz auf griechisch „splen“. Hochaktiv ist die Milz in der Pubertät, danach bildet sie sich zurück. Im Alter von 50 Jahren entwickelt sie lediglich die Aktivität wie bei einem einjährigen Kind. Sie ist das einzige eingeschaltete Organ des lymphatischen Systems im Blutkreislauf. Ihr Wirkort liegt in der Bauchhöhle nahe dem Magen. Obgleich sie nur 0,3 Prozent des Körpergewichts ausmacht, erhält sie bis zu fünf Prozent der gesamten Blutmenge unserer Körperdurchblutung.
Die Milz fungiert als Blutschwamm, d.h. sie wirkt bei der Blutverteilung im Organismus mit und ist in der Lage, bei Bedarf Blut in den Organismus abzugeben und auch wieder aufzunehmen. In Ruhezeiten speichert sie zelluläre Blutbestandteile; z.B. enthält sie rund 30 Prozent der gesamten Thrombozyten. Das Ausschütten von Adrenalin wirkt auf die „ruhenden“ Zellen mobilisierend. Störungen können sich auf die Blutverteilung im gesamten Organismus ausbreiten: Die venösen Gefäße des Bauchraum sind dann nicht mehr in der Lage den notwendigen Spannungszustand aufzubauen: das Blut versackt im Gefäßsystem der Bauchregion. Übrigens ist das Blutspeichervermögen der Milz bei Tieren noch viel stärker ausgeprägt.
Die Milz, das Chamäleon unter den Organen
In der Fötusphase und im frühen Kindesalter bildet die Milz rote Blutkörperchen. Später übernehmen Leber, Knochenmark und andere lymphatische Gewebe diese Aufgaben; sie behält aber bis ins hohe Alter diese blutbildende Fähigkeit bei. Bei Erkrankungen des blutbildenden Knochenmarks „erinnert“ sich die Milz auch im Alter wieder an ihre Fähigkeit von Einst und hilft im Körper aus.
Strukturell vereint die Milz zwei Organen. Als lymphatisches Organ übernimmt die weiße Pulpa im Innern immunologische Aufgaben. Dagegen entfernt die rote Pulpa schädliche Partikel aus dem Blut durch ihre Fresszellen (Phagozyten). Sie speichert auch weiße Blutkörperchen und Blutplättchen, die sie ausschütten kann. Schließlich werden sie von Makrophagen beseitigt. Die Arealen der roten Pulpa unter der Milzkapsel speichern Monozyten in größeren Zellansammlungen.
Die „Blutmauser“ der Milz
Einfach genial: Ähnlich wie ein Vogel, der sein Gefieder von Zeit zu Zeit erneuert, fischt die Milz starr gewordene oder geschädigte Blutzellen, z.B. Thrombozyten aus dem Blutstrom. Vor allem die 120 Tage alten Methusalems unter den Erythozyten verspeisen die Freßzellen, die Makrophagen. Damit bewahrt der Organismus seine „Blutqualität“, und zudem baut die Milz kleine Blutgerinnsel ab. Das Aussortieren geschieht in der roten Pulpa der Milz. Das ist ein Raum – angefüllt von knotenförmigen Zellen aus einem weitmaschigen Netz der Milzstränge – in dem sich ausgediente Erythrozyten wie in einer Reuse verfangen. Auch Zellen, die durch Antikörper beladen sind, Mikroorganismen, kolloidale und andere Partikel werden auf diese Weise ausgesondert. Dagegen treten ungehindert intakte Zellen durch die offenen Wände der venösen Abflüsse ein und fließen zusammen mit dem Plasma wieder ab.
Wenn die Milz versagt, was dann?
Verläuft das Aussortieren alter Erythozyten mangelhaft, nimmt die Qualität der Erythozyten ab: der Wirkungsgrad beim Transport von Sauerstoff reduziert sich; dann zeigt der Mensch alle Symptome einer Anämie. Dieses Milzproblem lässt sich durch Gaben von Eisen-Präparaten nicht lösen. Allgemein gesagt, in ihrer pathologischen Bedeutung als Immunorgan spielt die Milz bei allen Formen der Abwehrschwäche und bei allergischen Krankheiten eine Rolle. Eine Milzvergrößerung kann viele Ursachen haben. Unter anderem kann sie ein Zeichen einer Leukämie, einer Malaria-Infektion oder einer Viruserkrankung sein, z.B. Epstein-Barr.
Die Milz hilft dem kranken Herzen
Sie spielt eine wichtige Rolle bei der Genesung nach Herzattacken. In einer jüngsten Studie fand man heraus, dass sich in der Milz zehnmal mehr weiße Blutkörperchen, also Monozyten befinden, als im Blut selbst. Der Selbstheilmechanismus des Herzens nach einem Infarkt ist stark von der Anzahl der Monozyten abhängig. Berechnungen zeigten, dass nach einem Infarkt die Anzahl der im Herz befindlichen Monozyten jene im Blut bei weitem übertreffen. Wichtiger Lieferant in der Not ist die Milz. Eine Langzeitstudie bewies außerdem, dass Menschen ohne Milz zweimal wahrscheinlicher an einer Herzkrankheit oder einer Lungenentzündung starben, als jene mit Milz.
Gehirn oder Wächter des Immunsystems
Über das fließende Blut und die vernetzten Nervenfasern erhält die Milz Informationen von allen Organverbänden und Zellen des Körpers. Sie ist eine Zentrale für die Gedächtniszellen des Immunsystems und für alle natürlichen Killerzellen. 50 Prozent aller Lymphozyten verlassen die Blutbahn im Bereich der Milz-Randzone und wandern in die weiße Pulpa. Nach einigen Stunden kehren sie dann über die rote Pulpa zurück ins zirkulierende Blut.
Über vegetative Nervenfasern des Sympathikus „erregt“ die Milz die Blutgefäße. Überdies stehen diese auch mit Zellen des Abwehrsystems in Verbindung. Das sind Lymphozyten, Makrophagen und Epithelzellen, die an Nervenenden andocken und dort ankommende Signale „abgreifen“.
Appendixes der Zukunft
Unser Planet hat eine himmlische Geduld mit der „Anomalie“ Mensch. Wir sollten aber der Evolution nicht zu sehr ins Handwerk pfuschen und Naturgegebenes nicht einfach wegpfuschen. Unnützes Gut produziert allein der Mensch. In Tausend Generationen sind vielleicht unsere ungenutzten Gehwerkzeuge zu lästigen Anhängseln verkümmert. Dann heißt es: weg mit den Bein-Nichtsnutze – her mit den Geh-Robotern.